Menschliche Hinterlassenschaften im Fokus

Für die Erforschung der materiellen Kultur vergangener Epochen sind menschliche Hinterlassenschaften von zentraler Bedeutung: in der wissenschaftlichen Terminologie – beispielsweise in der Archäologie, aber auch in anderen historisch arbeitenden Fachdisziplinen – werden mit diesem Begriff die aus der Vergangenheit erhaltenen materiellen Zeugnisse bezeichnet, welche in unterschiedlichen Formen auf uns gekommen sind und der Forschung als Quellen dienen können. In dieser Bedeutung – also als das, was uns historische Individuen und Gesellschaften an hinterlassen haben – bilden sie in all ihren vielfältigen Erscheinungsformen seit nunmehr fast fünfzig Jahren den Forschungsgegenstand des Instituts für Realienkunde.

Der Begriff ‚Hinterlassenschaft‘ kann aber auch verhüllend für jene Objekte unterschiedlicher Form und Konsistenz stehen, die von Menschen und Tieren als Endprodukte ihres Verdauungsprozesses  hinterlassen werden.

In dieser zweiten Bedeutung präsentiert sich zunächst das dargestellte Objekt auf unserem Bild des Monats, hier sogar noch im (allerdings bereits ‚losen‘) Verbund mit seinem Produzenten. In dem als Initiale in Blau ausgeführten Buchstaben N befindet sich die Darstellung eines Knaben, der mit heruntergelassenen Beinkleidern in einer Wiese hockt und soeben sein großes Geschäft verrichtet hat.

N-Initiale in einer liturgischen Handschrift: Graduale Stiftsbibliothek Geras (fol. 153r), 1470-1500.

N-Initiale in einer liturgischen Handschrift: Graduale Stiftsbibliothek Geras (fol. 153r), 1470-1500.

Auf den modernen Betrachter mag seine Anwesenheit an dieser Stelle zunächst verstörend wirken, handelt es sich doch bei der vorliegenden Handschrift um ein Graduale, eine Sammlung von liturgischen Gesängen also. Richtet man seine Aufmerksamkeit jedoch auf den Text, der sich auf diesem Blatt befindet und zu dem die Initiale gehört, so erschließt sich ein Zusammenhang, in dessen Licht das Bildmotiv nun keineswegs deplatziert erscheint.

Fol. 153r des: Graduale in der Stiftsbibliothek Geras, 1470-1500.

Fol. 153r des Graduale in der Stiftsbibliothek Geras, 1470-1500.

Es handelt sich um Verse aus den Psalmen 91 und 138, wobei hier besonders Letzterer von Interesse ist. Psalm 138 preist die Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht Gottes und knüpft daran die Bitte des Betenden um Hilfe gegen seine gottlosen Feinde.

Die Verse zwei und siebzehn des 138. Psalms lauten:  „Domine probasti me et cognovisti me tu cognovisti sessionem meam et surrectionem meam“ (Herr, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es) und „Mihi autem nimis honorificati sunt amici tui Deus nimis confirmati sunt principatus eorum“ (Für mich sind aber deine Freunde, Herr, außerordentlich ehrenwert: ihre Vorzüglichkeit wird über die Maßen  gestärkt). Das Geraser Graduale gibt den Text an der vorliegenden Stelle in etwas veränderter Form wieder, beziehungsweise ordnet es ihn anders an: „Michi autem nimis honorati amici tui deus nimis confortatus est principatus eorum | Domine probasti me et cognovisti me tu cognovisti sessionem meam | Nimis honorati sunt amici tui deus nimis conforta[…]“.

Die Buchstaben M, D und N sind als Initialen gestaltet, wobei Erstere und gleichzeitig die größte der drei bedauerlicherweise einem Initialenraub zum Opfer gefallen ist und – wohl mit einer Rasierklinge – aus dem Pergamentfolio herausgeschnitten wurde, sodass wir leider nichts über ihren Bildinhalt wissen. Das überraschend einfach gestaltete D zu Beginn des Wortes „Domine“ zeigt links die Drôlerie eines männlichen Profils mit überlanger Nase, und das N schließlich birgt unter der Wölbung seines Bogens unseren Notdurft verrichtenden Knaben.

Die bildliche Gestaltung der hier noch verbliebenen Initialen scheint also zunächst und auf einer allgemeinen Ebene das (allzu) Menschliche und ‚Niedere‘ im Kontrast zur göttlichen Erhabenheit herauszustellen. Die N-Initiale schließlich nimmt dann explizit Bezug auf den Begriff „sessionem“ in Ps 138:2 und verdeutlicht ihn, indem es ihn auf eine ganz bestimmte Art von ‚Sitzung‘ hin konkretisiert.

Denn wenn Gott alles sieht und in jedem Augenblick bei uns ist, dann bleiben ihm konsequenterweise auch jene Momente nicht verborgen, in denen wir dem Ruf der Natur folgen. Diese Erkenntnis mag einerseits verstörend sein, bedeutet sie doch auch, dass keine Sünde je  verborgen bleibt; andererseits bildet aber auch die Gewissheit, von Gott niemals alleine gelassen zu sein, die Grundlage für das von gläubigen Christen geforderte umfassende Gottvertrauen. Jedenfalls aber sitzt – beziehungsweise hockt – der Knabe in seiner N-Initiale bei näherer Betrachtung durchaus am rechten Platz.

G. S.