Eine Fliege verirrt sich zu Pfingsten

Die Fliege, so unscheinbar und kurzlebig sie sein mag, ist für die Kunstgeschichte ein ganz besonderes Tier. Dies hängt sowohl mit einem komplizierten physikalischen als auch mit einem biologischen Merkmal zusammen, durch welche sie sich auszeichnet und die sie befähigen, gegen die Wirkung der Schwerkraft festen Halt auf verschiedenen, auch sehr glatten Oberflächen zu finden. Fliegen kleben literaliter durch eine von den Beinen abgesonderte Flüssigkeit an den Dingen.  Auch deshalb ist es gerade eine Vertreterin dieser Species, die in der Täuschungsanekdote über den perfekten Illusionismus der Malerei Giottos figuriert: Sein Lehrer Cimabue habe versucht, von einem seiner Werke eine von Giotto auf die Nase einer Bildfigur gemalte Fliege zu verscheuchen. Dies wiederum rekurriert auf die Trompe l’œuil-Anekdote bei Plinius, in der die Vögel an den von Zeuxis gemalten Trauben picken und Zeuxis wiederum versucht, einen von Parrhasios gemalten Vorhang zur Seite zu ziehen, um das vermeintlich dahinter befindliche Bild sehen zu können – die beste Täuschung ist diejenige, die selbst den Künstler und gar den Lehrer täuscht.

Die Fliegen in der Kunst haben daher neben ihrer symbolischen Bedeutung im Sinne von Vanitas, Unreinheit, Laster, aber auch positiv konnotierter Beharrlichkeit und Mut, immer einen Bezug zur künstlerischen Meisterschaft ihres jeweiligen Schöpfers. Zudem thematisieren sie beständig die Bildgrenze: Kleben sie (fiktiv) auf einem gemalten innerbildlichen Gegenstand oder auf der (realen) Bildoberfläche? Werfen sie einen Schatten im Bild oder auf das Bild? Betonen sie das im Bild fingierte Lebende oder kleben sie auf dem Bild als einem Gegenstand in der erfahrbaren Realität? In diesem ambivalenten Status findet sich die Fliege häufig in der spätmittelalterlichen Malerei; und meist oszilliert sie zwischen den Optionen und thematisiert so die gemalten Tafeln als objekthafte Medien. Später wird Albrecht Dürer eine solch ambivalente Fliege auf das Knie der Maria im Rosenkranzfest malen (1506), Hans Baldung Grien seinerseits auf die Wade eines Bogenschützen in der Marter des Heiligen Sebastian (1507). Die Doppelbödigkeit eines möglichen Befundes, an welcher Oberfläche die Fliege Halt sucht, findet sich auch in der Buchmalerei, wo sie in den Bordüren in Lebensgröße beispielsweise auf gemalte, scheinbar in das Buch eingenähte reale Pilgerzeichen hinaufkrabbelt und so einen außerbildlichen Status einnimmt. Andere Exemplare sitzen in den Bordüren eher in der innerbildlichen Logik auf oder zwischen Blumen. So auch in dem Stundenbuch Cod. 2599 der Österreichischen Nationalbibliothek (1460-70) auf den Seiten mit Miniaturen der Kreuzigung und den Aposteln Petrus und Andreas.

Dagegen finden wir im selben Stundenbuch auf der Seite der Miniatur mit der Ausgießung des Heiligen Geistes die Fliege nicht in der Bordüre, sondern quasi thematisch unmotiviert im Bildfeld der Miniatur selbst. Sie hat das Habitat der Bordüre, diesen „Lebensraum“ der Flora und Fauna in vielen Stundenbüchern des 15. Jahrhunderts, gleichsam verlassen – aber nicht etwa, um sich irgendwo im illusionierten Bildraum der biblischen Historie an einen Gegenstand zu kleben. Sie sitzt vielmehr als mediale Illusion eigenen Gesetzes in Lebensgröße auf dem Pergament des aufgeschlagenen Buches. Diese Allusion wird unterstützt durch die beiden Bücher, welche die wichtigsten Pfingst-Protagonisten geöffnet vor sich halten: Maria als Ecclesia und Petrus als erster Bischof Roms, als Stein, auf den Christus seine Kirche baut. Beide greifen sichtbar in die Bücher; sie nehmen haptischen Kontakt zu den Seiten auf, wie dies auch die Fliege tut – und wie dies auch der Betrachter vollziehen müsste, um die Fliege zu „vertreiben“, wenn sie realiter auf der Seite säße.

Detail aus der Ausgießung des Heiligen Geistes, Lehrbücher-Meister, Stundenbuch, Wien, ÖNB, cod. s. n. 2599, fol. 95r

Detail aus der Ausgießung des Heiligen Geistes, Lehrbücher-Meister, Stundenbuch, Wien, ÖNB, cod. s. n. 2599, fol. 95r

Man muss die Art und Weise, wie die Fliege als „Flügelwesen“ in nahezu gleicher absoluter Größe neben die Heiliggeisttaube gesetzt ist, als eine Art Scherzo betrachten, als einen Überraschungseffekt, der in der Verbindung von Taube und Fliege einen gewissen Witz beinhaltet. Ausgerechnet auf der Gründungsszene der christlichen Kirche macht sich das eher unreine Wesen breit; statt der Feuerzungen, die sich auf jeden der Apostel und Maria niederlassen, lässt sich die Fliege auf dem Pergament nieder.

Ausgießung des Heiligen Geistes, Lehrbücher-Meister, Stundenbuch, Wien, ÖNB, cod. s. n. 2599, fol. 95r

Ausgießung des Heiligen Geistes, Lehrbücher-Meister, Stundenbuch, Wien, ÖNB, cod. s. n. 2599, fol. 95r

Statt in ihr eine semantische oder ikonographische Bedeutung im Zusammenhang des Pfingstfestes zu suchen, ist sie vielleicht besser als medialer Störfaktor zu beschreiben: Man muss sie aus seiner Imagination verscheuchen, um sich auf den geistigen Gehalt des Bildes konzentrieren zu können. Die Seite spielt auch ganz generell mit Imitationen der Dinghaftigkeit und verschiedenen medialen Ebenen: Die Figuren in den Zwickeln des Bogens imitieren nicht etwa unlebendige und unbewegte Skulptur, sondern wirken wie Zeichnungen höchst lebendiger Akteure – auf die rechte Figur scheint sich die Fliege „innerbildlich“ noch am ehesten zu beziehen. Das Pfingstbild selbst wird von einem goldenen, (real) punzierten und mit (gemalten) Edelsteinen versehenen Rahmenband umfasst, das auf diese Weise Goldschmiedearbeiten imitiert und wiederum das „Objekthafte“ des Buches betont. Innerhalb all dieser ästhetischen Reize, die hier vielleicht sogar auf das „In vielen Zungen reden“ des Pfingstereignisses bezogen werden können, ist die Fliege weniger ein tatsächliches Trompe l’œuil – wirklich täuschen lassen wird sich der Besitzer des Stundenbuches höchstens ein Mal – als ein solcher ästhetischer Reiz.

H.S.