Lieferdienste

In Zeiten der Covid-19-Krise haben Lieferdienste Konjunktur. Via Posttrolley, PKW oder Lastenfahrrad werden täglich unzählige Pakete und Waren in Wohnungen zugestellt, deren Bewohner*innen aktuell entweder diese nicht verlassen können oder es sicherheitshalber nicht tun möchten.

Adler bringt die Opfergabe der Trojaner den Griechen, deutsche Übersetzung der lateinischen Historia destructionis Troiae des Ägidius von Colonna, ÖNB Wien, cod. 2773, fol. 206r, Mitte 15. Jh., REALonline 006468 © IMAREAL – Univ. Salzburg.

Für diese Tätigkeiten werden aber (soweit wir wissen) im Unterschied zu unserem Bild des Monats (REALonline 006468) keine Tiere eingesetzt: Hier sieht man, wie ein aus der Luft herabgleitender Adler ein Opfertier direkt auf einem Altar ablegt, auf dem bereits ein Feuer entzündet ist.

„Hie bri[n]get der adlar daz genom[m]e[n] opfer den krieche[n] auf ire altar“, steht entsprechend auch in der Bildüberschrift zur Miniatur, die auf fol. 206r der Handschrift, einer deutschen Übersetzung der lateinischen Historia destructionis Troiae des Ägidius von Colonna, eingefügt ist. Es geht also nicht um einen Lieferdienst in Zeiten einer Pandemie, sondern während einer kriegerischen Auseinandersetzung – konkret kurz vor dem bekannten entscheidenden Coup der Griechen, der Einnahme Trojas mithilfe des “trojanischen Pferdes”. Die Handschrift, die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Cod. 2773) aufbewahrt wird und um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist, zeigt in der Miniatur der vorangehenden Seite (205v) auch die Herkunft der ausgelieferten „Ware“: Es handelt sich nämlich um das Opfer der Trojaner, das der Adler zuerst von deren Altar raubt (REALonline 006467). Durch die Gegenüberstellung der zwei Opferhandlungen an Altären auf den beiden gegenüberliegenden Seiten der Handschrift wird augenfällig visualisiert, dass es sich um ein Zeichen oder eine himmlische Weisung handelt, wer den Verlust und wer den Sieg davontragen wird: Im Wegnehmen (linke Seite) und Hinzubringen der Opfergabe (gegenüberliegende Seite) durch den Adler entsteht eine Negativ/Positiv-Relation zwischen den Bildern, die noch verstärkt wird durch das Ausgehen des Feuers (links) im Gegensatz zum Brennen des Feuers (rechts) sowie durch einander entsprechende Gesten, die einmal Entsetzen ausdrücken (erhobene Hände links) und einmal freudige Überraschung (erhobene Hände rechts). Der Text der Handschrift hingegen berichtet, dass der Adler das Diebesgut nicht direkt auf den Altar, sondern zu den Schiffen der Griechen bringt. Auch in der Fortsetzung zum Trojanischen Krieg des Konrad von Würzburg, die um oder nach 1300 entstanden ist, lässt der Raubvogel die wertvolle und in weiterer Folge auch symbolische Fracht auf die Schiffe der Griechen fallen, woraufhin sich diese dann zunächst daran machen, die Bedeutung des Geschenks aus den Lüften zu ergründen.

Vergleiche der Erzählstrategien selbst auf der Ebene solcher Details werden anhand der im Projekt ONAMA – Ontology of Narratives of the Middle Ages entwickelten Ontologie ermöglicht: Medienübergreifend können damit die Bausteine von Narrativen annotiert und in weiterer Folge ausgewertet werden und so der Detektion von Mustern oder Besonderheiten im Datenmaterial dienen. Wer wissen will, in welchen anderen Narrativen (neben den beiden oben genannten Beispielen in den Bildern des Cod. 2773 der ÖNB bzw. im Text des Konrad von Würzburg) ein Tier einer Person etwas bringt, findet einige Beispiele in einer Graphvisualisierung des Ergebnisses zu dieser Abfrage im ONAMA-Fallstudiencorpus.

Vielleicht kann das Browsen und Hineinzoomen ins Netzwerk der Knoten so manche*n über eine heuer entgangene Ostereiersuche hinwegtrösten.

Miriam LandkammerIsabella Nicka