Eine Lesebühne für Maria

Im althochdeutschen Bibelepos ‚Liber Evangeliorum‘ des Otfried von Weißenburg (um 860), erweist sich Maria als ausgesprochen multitaskingfähig. Als der Engel Gabriel mit der frohen Botschaft in ihr Gemach tritt, ist sie mit Handarbeit beschäftigt und liest gleichzeitig in einem Psalter. Hingegen werden im biblischen Bericht zur Verkündigung deren Raum und Accessoires nicht weiter beschrieben: Der einzige Hinweis darauf, dass das Ereignis in einem Innenraum stattfindet, ist mit dem „Eintreten“ des Engels Gabriel gegeben (et ingressus angelus ad eam dixit: Ave, gratia plena etc. / Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: usw., Lk 1,28).  

Die in der mittelalterlichen Kunst dargestellten Räumlichkeiten, Ausstattungen und die Handlungen Mariae gehen auf apokryphe Schriften und geistliche Literatur zurück oder sind Erfindungen der Künstler selbst. Während die Arbeit am Textil bereits im Protoevangelium des Jakobus von 150 n.Chr. als Fertigung des Tempelvorhangs beschrieben wird, ist das Buch bei Otfried erstmalig ein Accessoire des Verkündigungsszenarios. Von dort aus findet es allerdings nicht unmittelbar seinen Weg in die Bildwelt: Erst für das 13. Jahrhundert kann man von seiner ikonographischen Verbreitung (zu dieser Zeit nicht zufällig vor allem in Psaltern) sprechen, und zum Standardprogramm gehört es erst im Spätmittelalter.

Abb. 1: Nikolaus von Verdun, Goldschmiedewerk vom ehemaligen Ambo der Stiftskirche („Verduner Altar“), 1181, Stift Klosterneuburg, Detail der Verkündigung. © IMAREAL, Univ. Salzburg.

Ohne Buch kein Lesepult, selbst mit Buch nicht zwingend ein solches: In den Verkündigungen des 13. und 14. Jahrhunderts trägt Maria das Buch meist in der Hand oder auf dem Schoß, wenn es denn überhaupt Aufnahme in die Darstellung findet (siehe z.B. REALonline 008632). Das Pult wiederum ist uns als ikonographische Zutat in später entstandenen Bildern so vertraut, dass wir es in hochmittelalterlichen Darstellungen nicht unbedingt hinterfragen. Das aber muss am Ende des 12. Jahrhunderts für die ersten Betrachter*innen der Verkündigungsdarstellung von Nikolaus von Verdun völlig anders gewesen sein. Gabriel tritt von links heran. Während er in der Linken das Spruchband mit dem Ave Maria hält, gehen von seiner rechten erhobenen Hand Strahlen aus, welche die Augen der Maria treffen: Sie empfängt die Botschaft mit den Augen. Zwischen beiden Protagonisten steht ein dreiregistriges Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch, über das sich das Spruchband des Engels mit dem Ave Maria wölbt, als würde dieses in der Logik der Leseperspektive dazu gehören (Abb. 1, REALonline 030002).

Warum wird hier ein (noch) nicht zum ikonographischen Standard gehörendes Lesepult so aufwendig inszeniert? Das Klosterneuburger Goldschmiedewerk des Nikolaus von Verdun, heute bekannt unter dem Namen „Verduner Altar“, war Maria geweiht und umkleidete von 1181 bis etwa 1330 den Ambo, d.h. die Lesebühne in der Kirche des Stifts Klosterneuburg.

Auch in dieser originalen Fassung waren die Bildszenen des Werks in drei Registern geordnet, mit einem christologischen Zyklus in der Mitte, der mit der Verkündigung an Maria und den begleitenden alttestamentlichen Verkündigungen der Geburten Isaaks und Samsons beginnt (Abb. 2).

Abb. 2: Nikolaus von Verdun, Goldschmiedewerk vom ehemaligen Ambo der Stiftskirche („Verduner Altar“), 1181, Stift Klosterneuburg, Verkündigungen der Geburt Isaaks, der Geburt Christi und der Geburt Samsons. © IMAREAL, Univ. Salzburg.

Hier zeigt sich das typologische Prinzip des Goldschmiedewerks als Form des Spiegelns: Während der Engel in der Verkündigung an Maria auf der linken Seite steht, kommen die Engel in den alttestamentlichen Verkündigungen von rechts. Dieses Spiegeln zeigt bildlich, dass die Geschehnisse des Alten und des Neuen Testaments nicht gleichzusetzen sind, die Christusvita aber in den Ereignissen des Alten Testaments bildhaft vorausbedeutet (präfiguriert) sind.

Betrachten wir das Lesepult, welches zum Schmuck der Lesebühne der Kirche gehörte, etwas genauer.

Die drei Register enthalten je einen profilierten Bogen, der wiederum zwei rundbogige Elemente umfängt, welche in den Farben rot und weiß von Register zu Register alternieren. Im oberen und unteren Register ist der weiße Bogen rechts, im mittleren Register ist er links. Dies entspricht der Konstellation der Figuren der Engel und der empfangenden Frauen in den Verkündigungen in den drei Registern der Amboverkleidung – die Engel stehen an der Stelle der weißen, die Frauen an der Stelle der roten Bögen.

Das Lesepult der Maria verweist in seiner dreiregistrigen Struktur auf die Maria geweihte Amboverkleidung und es verrät uns in einer verdichteten Schlüsselfigur die ikonographische Leitidee des typologischen Spiegelns von Altem und Neuem Testament. Gleichzeitig verbindet sich das Accessoire „Lesepult“ mit der Funktion des Ambo, den Lesungen zu dienen und Bücher (auch den Psalter) zu „halten“. Als quasiliturgisches Accessoire der Verkündigungsdarstellung ist das Lesepult geradezu prädestiniert, nicht nur innerbildlich etwas zu „bedeuten“, sondern sich auf besondere Weise mit der Bedeutung des realen Ausstattungselements, auf dem es dargestellt ist, zu verbinden.

Siehe für ein späteres Beispiel hier: REALonline 017970.

Zur Rekonstruktion der Amboverkleidung erfahren Sie mehr im Artikel „Die Ordnung der Reime“ von Heike Schlie.

Informationen für einen Besuch des Stiftes Klosterneuburg finden Sie hier.