Eisvogeltage

In den zwei Wochen vor und nach der Wintersonnenwende flauen im Mittelmeer die Stürme ab; diese 14 Tage werden mitunter auch als ‚halkyonische Tage‘ bezeichnet. Dem liegt die in der griechischen Mythologie tradierte Erzählung zu Grunde, nach der Alkyone um ihren auf hoher See verstorbenen Gatten König Keyx von Trachis trauerte, worauf Alkyones Vater, der Windgott Aiolos, die beiden in Eisvögel verwandelte und die Winde stillstehen ließ, damit das Paar ein Nest bauen und auf dem Meer ihren Nachwuchs ausbrüten konnte.

Im Mittelalter fand die Erzählung von den Eisvögeln, die im Winter brüten, Eingang in die als Bestiarien bezeichneten, weit verbreiteten Naturbücher, in denen die Geschöpfe und Erscheinungen der Natur als jener, von der Hand Gottes direkt in die Natur eingeschriebene Teil der Heilsgeschichte, ausgelegt wurde. Im Aberdeen Bestiary aus dem 12. Jahrhundert wurde die direkte Verbindung des Eisvogels zu Gott hervorgehoben: „This little bird is endowed by God with such grace that sailors know with confidence that these fourteen days will be days of fine weather and call them ’the halcyon days’ (after the Latin name of the kingfisher, ‚halcyon‘), in which there will be no period of stormy weather.“ [Übersetzung aus dem Lateinischen nach der digitalen Edition].

Die Erzählung über den kleinen farbenprächtigen Vogel, dem die Seefahrer eine winterliche Windstille verdanken, hat auch in die von Ulrich von Lilienfeld in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfasste Concordantiae Caritatis Eingang gefunden. Diese illuminierte Handschrift, aus der das Bild dieses Monats stammt, wurde vermutlich als Predigtlehrbuch verfasst. Es nimmt den Typus des Bestiariums durchlaufend auf der unteren Bildebene auf und integriert die Tierdarstellungen mit knapp gefassten Überschriften, die eine Verbindung zur antiken und christlichen Naturkunde herstellen und damit das umfassende enzyklopädische Wissen im Rahmen der Predigt abrufbar machen soll. Zum Alcion (Eisvogel), auf den in der Predigt am dritten Sonntag nach Epiphanie (Dominica tertia post Epiphaniae) – dieser fällt heuer auf den 26. Jänner – Bezug genommen werden soll, lautet die Textüberschrift: Alcion arte noua parit in fluidis maris oua.

Concordantiae caritatis, Federzeichnung koloriert 1349-1351; Stiftsbibliothek Lilienfeld (Niederösterreich), cod. 151, fol. 24v

Die halkyonischen Tage haben sich von der Zeit der Wintersonnenwende losgelöst und stehen ganz allgemein für Zeiten der Entschleunigung und Stille – oder zumindest dem Wunsch danach.

Und auch die Brutzeit des Eisvogels findet nicht im kalten Winter, sondern rund um die Sommersonnenwende statt, wenn der schon sehr selten beobachtbare Vogel in der Nähe des Wassers sein Nest baut, um im Schutz von ufernahen Steinhöhlen den Nachwuchs aufzuziehen. Ein brütender Eisvogel am Ufer des Kremsflusses in der Umgebung von Linz (Oberösterreich) erlangte im Sommer des Vorjahres die traurige mediale Aufmerksamkeit, als dieser, verursacht durch vorsätzliche menschliche Böswilligkeit in seiner Bruthöhle eingeschlossen und dort nach einem mehrtägigen verzweifelten Überlebenskampf für sich und die noch in der Brut befindlichen Jungen zu Tode gekommen ist.

Link zum Bild des Monats: https://realonline.imareal.sbg.ac.at/detail/?archivnr=003906C

Ingrid Matschinegg