In unserer durch und durch digitalisierten Lebenswelt sind Internet-Links von großer Bedeutung: Sie erschließen Wege in die digitalen Welten des Wissens, des Konsums und der sozialen Beziehungen; gleichzeitig konstituieren sie diese auch auf virtuelle Weise. Eine wichtige Rolle spielt dabei nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität dieser Links: Identität und Stellenwert jener hinter den Webauftritten stehenden Institutionen und Individuen werden wesentlich dadurch mitdefiniert, mit wem (oder was) sie im world wide web verlinkt sind. In der Sprache der Marketing- und IT-Fachleute ist in Hinblick auf die Optimierung von Webauftritten oft von „good and bad links“ die Rede.
Gute Links sind solche, die einer Website dazu verhelfen, von Suchmaschinen besser aufgefunden zu werden. Je mehr qualitativ hochwertige Links eine Website aufzuweisen hat, desto weiter vorne wird sie in Suchergebnissen gereiht; „Qualität“ definiert sich dabei v.a. durch inhaltliche Relevanz und Prestige der angesteuerten Ziele. Als „Bad Links“ hingegen bezeichnet man dysfunktionale Links, deren Ziel nicht auffindbar ist, weil der angegebene Pfad entweder fehlerhaft oder nicht mehr aktuell ist, oder aber die Zielhomepage schlichtweg nicht mehr existiert. Bad Links schaden dem Image einer Seite und können sie rasch als unseriös, schlecht gewartet oder veraltet erscheinen lassen.
Das englische Substantiv „link“ bedeutet schlichtweg „Verbindung“ und bezeichnete bis zum Beginn des Internetzeitalters jedwede Verknüpfung zweier oder mehrerer Entitäten. Unter dieser sehr allgemein gefassten Bedeutung lassen sich zahlreiche unterschiedliche Arten von Verbindungen fassen – und dies nicht erst im 21. Jahrhundert. So visualisieren beispielsweise die roten Linien auf unserem Bild des Monats eine besondere Art von Links, die nicht nur zu einer in ihrer Kammer sitzenden Frau, sondern auch zu unterschiedlichen Objekten führen. Das Tafelgemälde mit dem Titel „Evagationes Spiritus“ (wörtl. „Ausbreitungen des Geistes“, i.S.v. „Abschweifen des Geistes“) stellt auf innovative Weise das Bildthema „Gute und Schlechte Gebete“ dar. Es gehörte ursprünglich zu einem mehrteiligen Flügelaltar, der Mitte des 15. Jahrhunderts angefertigt wurde. Die überlieferte Tafel befindet sich heute im Keresztény Múzeum (Christlichen Museum) von Esztergom in Ungarn.
Ver(w)irrungen des Geistes
Die mittels roter Linien visualisierten Gedanken und Begehrlichkeiten eines selbst nicht im Bild befindlichen, sondern irgendwo rechts außerhalb positionierten Individuums richten sich auf die dargestellten Objekte: auf die über einer Stange hängenden Kleidungsstücke, auf die verschiedenen mit Wertgegenständen gefüllten Truhen und Kästchen im Bildvordergrund, auf die durch das Fenster sichtbaren Gebäude und Fässer, das prächtig aufgezäumte edle Pferd, und nicht zuletzt auf die im Raum sitzende junge Frau. Ihr Status als Objekt ist auf zwei Ebenen zu verstehen: Einerseits ist sie in einem grundlegenden grammatikalisch-syntaktischen Sinne „Ziel“ von etwas – in diesem Fall Ziel der Gedanken und des Wollens eben jener außenstehenden (vermutlich männlichen) Person, für die sie womöglich gar „Objekt der Begierde“ ist. Andererseits ist sie als Ehefrau (dass sie eine solche ist, legt ihre Kopfbedeckung nahe) nach mittelalterlichem Rechtsverständnis und in der zeitgenössischen Ehepraxis ihrem Status nach durchaus den materiellen Objekten im Besitz des Ehemannes gleichgeordnet. Gemeinsam mit ihnen lenkt sie die Gedanken, und in weiterer Konsequenz die Seele des Mannes von deren idealem Ziel, nämlich Christus, ab und verhindert so seine Verbindung mit Gott. Dem gegenüber – und im vorliegenden Fall als „missing link“ imaginativ zu ergänzen – ist vermutlich der vorbildliche Betende dargestellt, dessen rote Linien des Geistes allein auf den gekreuzigten Christus und dessen Wundmale gerichtet sind. Andere erhaltene Darstellungen dieses Bildthemas, die in unterschiedlichen Medien des 15. Jahrhunderts begegnen (Tafel- und Wandmalerei, Buchmalerei, Einblattdruck), zeigen eine solche Zwei- bzw. Dreiteilung durch die Gegenüberstellung eines guten und eines schlechten Betenden mit Christus in der Mitte und mit einem bestimmten, im Kern immer wiederkehrenden Inventar an weltlichen, belebten wie auch unbelebten, Objekten der Ablenkung.
Verlinkungen und Verstrickungen
In ihrer didaktischen Zielsetzung und in ihrer dichotomischen Gegenüberstellung von amor mundi und contemptus mundi sind diese Darstellungen vor dem Hintergrund der kirchlichen Reformbestrebungen des 15. Jahrhunderts zu sehen, die unter dem Schlagwort reformatio personalis eine spirituelle Erneuerung auf der Ebene der Gläubigen forcieren und die Laienseelsorge verbessern sollten. Die Anleitung zum „richtigen“ Gebet war ein ebenso wesentlicher Bestandteil dieser Bemühungen wie die Gegenüberstellung von materiellem Reichtum und spiritueller Armut auf der einen, spirituellem Reichtum und materieller Armut auf der anderen Seite. Es scheint dabei ein grundlegendes Bewusstsein darüber zu geben, dass der Mensch in ein komplexes weltliches Beziehungsgeflecht eingebettet ist, in welchem den materiellen Objekten auf vielfältige Weise Bedeutung zukommt. Eine Fokussierung auf spirituelle Ziele ist in dieser Vorstellung nur durch ein konsequentes Kappen der Verbindungen zu den weltlichen Objekten erreichbar. Diese „bad links“ nämlich führen die Seele in die Irre, und ähnlich wie ihre Pendants im world wide web des 21. Jahrhunderts durch ihre Fehlerhaftigkeit die – vermeintliche oder tatsächliche – Flüchtigkeit digitaler Inhalte offenlegen, so führen auch sie auf Ziele hin, die letztlich vergänglich sind und im Gegensatz zu den jenseitigen weder Wert noch Bestand haben.
Ein entscheidendes Merkmal der hier dargestellten bad links (ebenso wie übrigens der zu ergänzenden good links) ist, dass sie in beide Richtungen funktionieren. Auf den ersten Blick erscheinen die roten Linien als Vektoren, die von einem Individuum ausgehen und dessen Wünsche, Begehren, Gedanken, Sorgen und andere, klar auf ein Ziel hin ausgerichtete Interessen anzeigen. Gleichzeitig scheint aber auch von den Objekten selbst eine Art Anziehungskraft auszugehen, wenn nicht gar eine Sogwirkung: Die Objekte locken, und sind sie erst einmal verbunden, so haben auch sie Zugang zu der mit ihnen verbundenen Person. Kann also unterstellt werden, dass die Dinge Macht ausüben? Inwieweit und wie beeinflussen, führen oder verführen die Dinge uns Menschen?
Object Links
Die Theologen und Reformprediger jener Zeit, aus der die Darstellung der „Evagationes Spiritus“ stammt, hätten die Frage nach einer Macht der Dinge mit Sicherheit bejaht, sahen sie doch das Streben nach materiellen Besitztümern und das Verhaftet Sein des Menschen in der materiellen Welt als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum Seelenheil.
Unter völlig anderen Vorzeichen werden die Verflechtungen menschlicher Akteure und materieller Objekte in den Material Culture Studies diskutiert, wiewohl auch in dieser Debatte die Frage nach der Wirkmacht der Dinge und inwieweit diese eine agency entwickeln können, eine zentrale Bedeutung über Wissenschaftsdisziplinen hinweg erlangt hat. Am IMAREAL bildet der Blick auf die Beziehungen, die Objekte mit anderen Objekten und mit Menschen eingehen sowie auf die beziehungsstiftenden Qualitäten von Objekten seit geraumer Zeit eine Forschungsperspektive. Das Erschließen historischer materieller Kultur über Object Links bedeutet, die komplexen Beziehungsnetzwerke zwischen Dingen und Menschen von den Dingen her zu denken: Ein solcher Zugang kann nicht nur Fachgrenzen überwinden helfen, sondern auch Kulturgeschichte neu perspektivieren.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IMAREAL haben den methodischen Zugang der Object Links entwickelt und an Forschungsgegenständen aus ihren jeweiligen Arbeitsgebieten erprobt; die Ergebnisse wurden in 2019 in einer gleichnamigen, im Böhlau-Verlag erschienenen Monografie publiziert. Auf dem Buchcover figurieren – nicht zufällig, wie obige Ausführungen verdeutlicht haben dürften – die „Evagationes Spiritus“ als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für Linkvisualisierungen.
Mittlerweile hat der Forschungsansatz der Object Links für einiges Echo in der scientific community gesorgt, sodass im kommenden Wintersemester unter diesem Titel eine interdisziplinäre Ringvorlesung am Interdisziplinären Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit (IZMF) in Salzburg stattfinden wird. Im Rahmen der Vorlesung werden die Autorinnen und Autoren des Object-Links-Buchbandes ihre einschlägigen Forschungsarbeiten vorstellen; darüber hinaus werden auch externe Gastvortragende das Konzept der Object Links zur Anwendung bringen.