Schach – ein Spiel für die Isolation

Schach erlebt derzeit einen Boom, nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs der Streaming-Serie Damengambit, in der ein Mädchen im Waisenhaus Schach spielen lernt und danach die männlich dominierte Schachwelt gehörig aufmischt. Auch in Stefan Zweigs Schachnovelle lernt der Protagonist das Spiel in der Isolation eines Gefängnisses. Es ist ein Spiel, mit dem auch so manche Leerläufe, die die Pandemie mit sich bringt, sinnvoll überbrückt werden können: es erfordert viel Zeit, lässt sich online oder als Computerspiel auch alleine spielen und zeichnet sich durch ein nachvollziehbares, klares Regelwerk aus; im Unterschied zu den unzähligen Verordnungen, Erlässen und teils unübersichtlichen regionalen Einschränkungen, mit denen wir uns im täglichen Leben nun schon mehr als ein Jahr lang herumschlagen müssen.

Die Bedeutung der Regeln im Spiel generell hat der Historiker Johan Huizinga (1872-1945) in seinem vielbeachteten und -zitierten Werk Homo ludens wie folgt definiert: Spiel, ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgelegter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘ (Huizinga, Homo ludens, 34).
Das Schachspiel hat ‚erst‘ seit etwa 150 Jahren ein verbindliches Regelwerk. Gespielt wird es natürlich schon viel länger. Wie der Beitrag im Lexikon des Mittelalters (Petschar, LexMA 7) ausführt, weisen die Anfänge in das 7. Jahrhundert nach Nordindien, wo es als Kriegsspiel namens Chaturanga gespielt wurde. Es gelangte über Persien und den arabischen Raum über Gelehrte und Händler nach Südeuropa. Die Transformation in ein höfisches Spiel wird im 13. Jh. im Buch der Spiele König Alphons X. von Kastilien eingeleitet. Darüber hinaus zeigt dieses Werk die Vertreter*innen der drei großen Religionen vereint beim Spiel. Entlang der Handelsrouten der Wikinger gelangte das Schachspiel in den nordeuropäischen Raum. Anhand der Lewis Chessmen, einem Hortfund mit 88 Schachfiguren aus Walrosszähnen, die wohl um 1200 im norwegischen Trondheim hergestellt und im Jahr 1831 auf der Hebrideninsel Lewis gefunden wurden, erklärt Neil MacGregor in seiner populären BBC-Serie Geschichte der Welt in 100 Objekten sehr anschaulich, wie sich die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur im Schachspiel und den einzelnen Spielfiguren abbildet (MacGregor, 100 Objects, 335-344).

Neben der Überlieferung von Spielfiguren aus unterschiedlichen Materialien wie Holz, Knochen, Geweih oder Elfenbein, deren Verbreitung die Popularität des Schachspiels im Mittelalter belegt, hat sich mit den sog. Schachzabelbüchern im späteren Mittelalter eine eigenständige Textgattung entwickelt, in der u.a. die Verschriftlichung der Regeln geleistet wurde. Darin repräsentieren die Schachfiguren durch ihre Position und relative Stärke die soziale Welt. Den unterschiedlichen Figuren werden – ganz in der Tradition der didaktischen Literatur – jeweils unterschiedliche Rollen zugewiesen. Das Schachbrett symbolisiert die Welt, die Figuren unterteilen sich in zwei Stände, in die Nobiles und die als Populares bezeichneten niederen Spielfiguren mit Handwerkern und Bauern (der Klerus fehlt). Die Vorlage der meisten spätmittelalterlichen Schachzabelbücher wird im lateinischen Traktat De ludo scacorum des Dominikaners Jacobus de Cessolis gesehen. Der zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Oberitalien verfasste Text fand weite Verbreitung und wurde in mehrere Sprachen übersetzt (Petschar, Vorbilder für Weltbilder). Eine auf 1464 datierte illuminierte Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek, Codex 2801, enthält die mittelhochdeutsche Bearbeitung mit dem hier gezeigten Bild auf fol. 52r (REALonline 006593).

In 14 Miniaturen werden die Spielfiguren und ihre -züge aufgeführt, beginnend mit den Nobiles, allen voran der König, gefolgt von der Königin und weiteren heute teilweise nicht mehr so geläufigen Spielfiguren. Die letzte Miniatur mit dem Titel „Der Philosoph und der König beim Schachspiel“ zeigt zwei Personen beim Spiel auf einem Spielbrett mit vier x vier Feldern (Petschar, Vorbilder für Weltbilder, 640).
Ganz so unangefochten wie es sich für ein so königliches Spiel erwarten ließe, war das Strategiespiel im Mittelalter noch nicht, u.a. wurde es dem Glücksspiel zugeordnet und damit religiös verteufelt. „Erst als das Schachspiel als Spiel der Vernunft erkannt war, konnte es sich in der intellektuellen Kultur des Mittelalters entfalten“ (Strouhal, Acht x Acht, 28).

I. M.

Literatur:
Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1958.
Neil MacGregor, The Lewis Chessmen, in: A History of the World in 100 Objects. London 2012, 335-344.
Hans Petschar: Schachspiel, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 1427–1430.
Hans Petschar, Vorbilder für Weltbilder. Semiotische Überlegungen zur Metaphorik der mittelalterlichen Schachzabelbücher, in: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gertrud Blaschitz, Helmut Hundsbichler, Gerhard Jaritz und Elisabeth Vavra. Graz 1992, 617–640.
Ernst Strouhal, Acht x acht. Zur Kunst des Schachspiels. Wien 1996.