Fliegen

Im Sommer können Fliegen mitunter als lästige Nebenerscheinung der heißen Temperaturen zur wahren Plage werden. Wird ein_e Mitarbeiter_in des Instituts für Realienkunde bei der konzentrierten Arbeit im Büro von einem solchen, beständig vor dem Gesicht umhersurrenden Insekt gestört, so stellt sich ihr oder ihm vielleicht irgendwann die Frage, ob Fliegen denn auch Eingang in literarische und bildliche Darstellungen des Mittelalters gefunden haben.

Der Franziskaner Johannes Pauli bringt in seiner erstmals 1522 in Straßburg gedruckten Exempelsammlung Schimpf und Ernst folgenden Schwank:

Uf einmal was ein kostlicher Meister in einer Stat, des Namen weit ußgieng. Da was ein anderer Meister weit von im in einer andern Stat, der was auch ein beriempter Meister, der het Lust, den andern Meister zů sehen, wie er doch ein Man von Person wer, auch sein Arbeit zu sehen, und zohe im nach und fand in arbeiten in dem Münster daselbst, und malet den engelischen Grůß kostlich von Olfarben. Der ander Meister grüßt in und ret mit im und gab sich nit zů erkennen. Der Meister gieng heim und wolt zů Imbiß essen. Da steig der ander Meister uff das Gerüst und malt dem Engel Gabriel ein Fliegen an sein Stirnen und gieng hinweg. Und da der Meister widerkam von dem Essen und wolt arbeiten, so sicht er die Fliegen und weiet mit der Hand und wolt sie hinwegtreiben; aber sie wolt nit hinweg. Da sahe er, das sie dar gemalt was; da sprach er: ›Hie ist ein Meister gewesen.‹ Und gedacht, es wer der, der bei im wer gestanden, und ließ in sůchen. Aber er ward nit funden.

(Johannes Pauli: Schimpf und Ernst, hrsg. v. Johannes Bolte. Teil 1, Berlin 1924, S. 244-245; ein digitales Bild der Seite im Erstdruck stellt die Bayerische Staatsbibliothek zur Verfügung.)

So meisterhaft hat der vorwitzige Maler also die Fliege im Gesicht des Erzengels ausgeführt, dass sein Kollege sie für echt hält und zu verscheuchen versucht. Möchte man die in dieser kurzen Fazetie präsentierte Geschichte weiterdenken, so liegt die Vermutung nahe, dass der solcherart hereingelegte Meister das freche Insekt in der Folge wohl übermalt hat, um die Makellosigkeit des Engelsgesichtes wieder herzustellen.

In REALonline findet sich (leider?) keine Verkündigungsdarstellung mit Fliege. Wohl aber findet man einige Fliegen (und andere Insekten), beispielsweise mit Hilfe der Thesaurus-Suche. Hierbei stellt sich heraus, dass Fliegen zumeist nur – im wahrsten Sinn des Wortes – am Rande vorkommen, nämlich in den oft von zahlreichen Tieren bevölkerten Randverzierungen der Buchmalerei.

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„Vertreibung aus dem Paradies“, cod. 2752, fol. 32v, Österreichische Nationalbibliothek,
Wien, erstes Viertel 16. Jh.

Mitunter sind sie dort gefährlich nahe bei Vögeln, auf deren Speiseplan sie ja bekanntlich stehen, platziert: So auch in einem Bild, das eine Illumination aus einer deutschsprachigen Handschrift des frühen 16. Jahrhunderts zeigt. (REALonline 006159)

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cod. 2752, fol. 32v, Detail

Dargestellt ist auf diesem Folio die Vertreibung aus dem Paradies; die Fliege sitzt am rechten Blattrand knapp außerhalb der Zierranke, welche im Paradies zu entspringen scheint und den Textblock umrundet. Unweit darunter sitzt ein Vogel (vielleicht ein Kiebitz?), der bereits einen begehrlichen Blick nach oben auf seine potenzielle Beute – die ihm allerdings an Größe fast gleichkommt – zu werfen scheint. (Eine andere Fliege, für die eine solch gefährliche Nachbarschaft bereits ein böses Ende genommen hat, ist übrigens auf Bild Nr. 007489 dargestellt.) Ob ein Leser oder eine Leserin des 16. Jahrhunderts beim Blättern in dieser Handschrift den Impuls verspürte, die hier dargestellte Fliege zu verscheuchen, wissen wir natürlich nicht. Allerdings wird im „Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte“ durchaus erwogen, dass die in der Buchmalerei häufig dargestellten Fliegen den Anschein erwecken sollten, sie säßen tatsächlich ‚leibhaftig‘ auf dem Pergament. (Ein Beispiel aus REALonline, wo dies der Fall zu sein scheint, stellt etwa die dargestellte Fliege „auf“ der Miniatur einer Pfingstdarstellung dar.) Dies und noch mehr zu Fliegen in der Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erfährt man im RDK, Artikel ‚Fliege‘.

G.S.