Das ist keine Lavabokanne

Spätestens seit René Magrittes berühmten Bild „Ceci n’est pas une pipe“ ist klar, dass die Darstellung von Dingen auf Bildern eben „nur“ deren bildliche Repräsentation ist, nicht das Ding selbst. Dies berührt einen Kernpunkt realienkundlicher Arbeit, nämlich jenen der Frage der Dinge im Netzwerk ihrer Repräsentationen. Im aristotelischen Sinne, also unter der Annahme, dass allen Dingen eine gemeinsame Idee von DEM Tisch, DER Kanne etc., innewohnt, kann auch das materielle Objekt als Repräsentation angesehen werden. Unabhängig von der Frage, ob man selbst eher der idealistischen (Idee>Ding) oder materialistischen (Ding>Idee) anhängt, erleichtert das Denken in „Repräsentationen“ den interdisziplinären Diskurs, weil es keine Hegemonie des physischen Objekts im Sinne des „realen“ Objekts gibt: Wirklich ist, was wirkt, nicht was physisch be-greifbar ist.

Kommen wir damit zurück zum Bild des Monats: Der Bildausschnitt stammt aus dem Chor der Kapelle St. Stephan bei Morter nahe der Burg Obermontani in Südtirol in Italien (REALonline 002997). Um 1420/30 wurde der gesamte Innenraum des Altarraumes mit einer gemalten Ausstattung versehen. Diese Bezeichnung ist durchaus im doppelten Wortsinn zu verstehen: Die vollflächige Freskomalerei ist nicht nur „Dekor“, sondern ahmt auch andere, andernorts dreidimensionale und aus anderen Materialien gefertigte Bauelemente nach. So sind beispielsweise an der Ostseite des Chores Apostelgruppen in Scheinarchitekturen aus gemalten Säulenarkaden mit gotischen Kielbogenabschlüssen dargestellt, beiderseits des zentralen Chorfensters wirken in Grisailletechnik gemalte Engelsfiguren wie Marmorstatuen (REALonline 002995). Seit dem späten 13. Jahrhundert lässt sich in weiten Teilen Europas, allerdings regional durchaus unterschiedlich, die Entwicklung beobachten, in Bildern Landschaften, aber auch menschliche Physiognomien oder einzelne Dinge quasi „fotorealistisch“ wiederzugeben. Dieses in der Kunstgeschichte als „Mimesis“ bezeichnete Phänomen geht auch mit einem Trend zu höherem Detailreichtum und einem sukzessiven Füllen des Bildraumes einher. Grundsätzlich lassen sich für diese Entwicklung zwei Intentionen anführen: Als religiöser Deutungsansatz, Heilsgeschichte durch die Darstellung von – aus Sicht der Betrachter/-innen – zeitgenössischen Details in deren Gegenwart zu holen. Profaner erscheint die Interpretation von Illusionismus, in der neue Wahrnehmungskonzepte der physischen Umwelt im Spätmittelalter kreative Anwendungen in der Bildkunst erfuhren.

So, wie aber „sakral“ und „profan“ moderne Zuschreibungen sind, die nur bedingt mit vormodernen Weltbildern und Lebenskonzepten in Deckung gebracht werden können, so spielen auch „konfigurierte Innenraumdarstellungen“ mit unterschiedlichen Raumkategorien, bei denen Zwischenräume zwischen Immanenz und Transzendenz aufgemacht werden. (zum Begriff siehe: https://doi.org/10.7767/boehlau.9783205793052.260). Dementsprechend mag die Einbindung von Aposteln und Heiligenfiguren in die gemalte Kapellenarchitektur als Vergegenwärtigung im Innenraum der Gottesraumes gedeutet werden, aber die Arkaden können auch aus der physischen Chorwand virtuelle Öffnungen in die Transzendenz vermitteln. Wohin dann die gemalten Ausstattungselemente, wie die gemalten Vorhänge in der Sockelzone, „gehören“, ist dementsprechend eine Frage der Perspektive: Sie ersetzen einerseits „reale“ Objekte und konturieren gleichzeitig Heils-Räume, in dem sie mit diesen verbinden oder diese abgrenzen.

Die illusionistische Darstellung von Ausstattungselementen in Innenräumen wirft allerdings auch – bislang kaum gestellte – Fragen auf: Wie wurde damit umgegangen, dass die Funktionalität des bildlich ersetzten materiellen Objekts verloren ging? Ein gemalter Wandvorhang, wie in der Sockelzone des Chores, kann einen Textilvorhang zwar in ästhetischer Hinsicht ersetzen, nicht aber, wenn es darum geht, die abstrahlende Mauerkälte vom Rücken des sitzenden Priesters oder der Messdiener abzuhalten. Ebenso zeigen die gemalten liturgischen Geräte in der nur perspektivisch dargestellten Wandnische an der Südseite des Chores (REALonline 002996) zwar die „lagerichtige“ Verortung der vasa sacra an, gleichzeitig verhindert diese den Einbau der für den Gottesdienst tatsächlich benötigten Nische an diesem Ort.

Detail vom Chor der Kapelle St. Stephan bei Morter nahe der Burg Obermontani in Südtirol (Italien), um 1420/30.

Detail vom Chor der Kapelle St. Stephan bei Morter nahe der Burg Obermontani in Südtirol (Italien), um 1420/30.

Wurde in diesem Fall dann ein mobiles Tischchen oder ein Regal vor die Wand gestellt und warum? Dass es sich bei diesen bildlichen „Platzhaltern“ um keinen Einzelfall handelt, belegen zahlreiche weitere Beispiele von gemalten „funktionalen“ Ausstattungselementen sowohl in Sakral- als auch in Profanräumen, exemplarisch seien hier gemalte Handtücher an Holzhalterungen genannt: Jezersko (Slowenien), Filialkirche St. Oswald (REALonline 009980) , Burg Schlaining (Burgenland), Palas.

Gemaltes Handtuch an einer Holzhalterung, Burg Schlaining (Burgenland), Palas, Foto: Gerhard Reichhalter

Gemaltes Handtuch an einer Holzhalterung, Burg Schlaining (Burgenland), Palas, Foto: Gerhard Reichhalter.

Stellen diese gemalten Objekte quasi „Handlungsanweisungen“ für die „richtige“ Raumausstattung dar? Oder wird mit dem Wissen um diese spielerisch umgegangen? Für Letzteres könnte im Fall der gemalten Nische in der Kapelle St. Stephan die Darstellung eines schräg hinter die Holzfächer gestreckten Briefes sprechen, der dem Bild die Anmutung einer „eingefrorenen Momentaufnahme“ gibt, wie wir dies heute von Fotos kennen.

Der Brief führt uns zu einem zweiten Aspekt, der auf dem Bild des Monats ersichtlich ist: Die Kapelle St. Stephan bei Morter nahe der Burg Obermontani dürfte schon früh als Ort genutzt worden sein, um Gebetsanliegen vorzubringen. Darauf weisen zahlreiche Einritzungen hin, die sich in für Besucher/-innen erreichbarer Höhe befinden. Ein Großteil davon ist datiert und stammt aus dem 16. und 17. Jahrhundert, spätere jedoch auch aus dem 19. Jahrhundert. Besonders auffällig ist die Häufung dieser Einritzungen in der in Scheinarchitektur ausgeführten Nische. In genau diesen Bereich, der für die Betrachter/-innen eine mögliche Brücke zwischen lebensweltlicher Gegenwart und himmlischem Geschehen bildet, schien der ideale Ort zu sein, um die eigene Präsenz einzuschreiben und für immer gegenwärtig zu erhalten. Dass dafür das weiß anmutende und an einer Stange hängende Lavabohandtuch einen idealen Ort darstellt, verwundert nicht. Nicht nur, dass es einen vorgeformten Rahmen für inschriftliche Vermerke bildet; es repräsentiert zudem auch jenes Objekt, das der Priester jeweils vor dem Wandlungsgeschehen benötigt, um seine Hände, die er von den Verschmutzungen, die das Leben in der Welt mit sich bringt, mit Wasser gereinigt hat, zu trocknen.

Zunächst scheute man sich jedoch offensichtlich, an dieser sowohl optisch als auch inhaltlich prominenten Stelle zu vergegenwärtigen, denn die Einritzungen in jener durch Handtuch und Nischenwand gebildeten Spalte datieren um einige Jahre früher. Der Schreiber des Jahres 1561 hingegen beabsichtigte wohl die Offensichtlichkeit, als er sein Gebet mit Rötelstift eintrug. Im Lauf der Jahre wurde schließlich jede sich anbietende Fläche genutzt, bis schließlich die gesamte Nische mit Gebetsanliegen und Bitten übersät war.

T.K. und E.G.